Dieter Pohl Organisationsentwicklung Organisationsentwicklung, Mediation, Coaching

Dieter Pohl Organisationsentwicklung
Wie der Mensch „Ich“ sagen lernte
Lucinda Grange theguardian.com
Lucinda Grange theguardian.com

„Die Fotografin Lucinda Grange ist eine der spektakulärsten Selfie-Knipserinnen weltweit. Die Britin kletterte z. B. auf das Chrysler Building in New York und setzte sich da im Cocktailkleid auf dem Art-Deco-Adler im 61. Stock. lhre heißen Selfie-Kicks veröffentlicht sie unter anderem auf der Plattform urban.explorer. Hier treffen sich Abenteurer, die unzugängliche Orte in Städten erkunden, ob Hochhäuser, Brücken,  U-Bahntrassen und vieles mehr.  Zu beachten ist, dass die Fotos, die hier gepostet werden, nicht einmal eben gemacht, sondern gezielt inszeniert werden. Die Urheber überlegen sich ganz genau, was sie wollen, wie sie sich darstellen und was sie von sich selbst preisgeben, welchen Eindruck sie vermitteln möchten. … Die Motive sind vielfältig. Lucinda Grange sagt, sie werde sich ihrer Endlichkeit bei jedem Mal aufs Neue bewusst, das gebe auch einen Kick. Natürlich möchte man auch Menschen beeindrucken, besondere Fähigkeiten und Eigenschaften herausstellen und zeigen, dass man etwas kann, was andere eben nicht können. Darin liege gerade der große Reiz, erklärt auch die Soziologin Bernadette Kneidinger von der Universität Bamberg. Facebook-Nutzer wollen selbst entscheiden, wer sie sind. (Catarina Katzer: Cyberpsychologie, München 2016; S. 214f.)

Man nennt es Impression Management. Impression Management ist die bewusste Steuerung des Eindrucks, den ich auf andere machen will. Und dabei will ich einen guten, hervorragenden Eindruck hinterlassen. Ich will selbst bestimmen, wer ich bin, wie mich die anderen sehen sollen. Es ist noch nie so leicht gewesen, ein bestimmtes Image von sich selbst zu schaffen, wie im Internet.

Identität herstellen durch ein Selfie?! Es gibt eine andere Sicht.                                                                       

Psychologen sprechen von einer Entwicklung, wenn sie von Identität sprechen:

Erst nach und nach empfindet sich ein Kind als eigenständige Person und entdeckt schließlich: Das bin ich!                                                  

In den ersten Lebenswochen empfindet sich ein Kind zunächst noch völlig eins mit seiner Mutter. Gleichzeitig macht es im täglichen Miteinander und Austausch mit Eltern und Geschwistern die Erfahrung, dass es mit seinem Verhalten etwas bewirken kann: Wenn es hungrig ist und schreit, stillen sie seinen Hunger. Wenn es sie anlächelt, lächeln sie zurück, beschäftigen sich mit ihm. Wenn es interessiert nach seinem Spielzeug schaut, reichen sie es ihm. Hierdurch ist es immer mehr in der Lage, sich selbst zu empfinden. Mit etwa zwei, drei Monaten beginnt es, seinen Körper als etwas Eigenes, von der Mutter Getrenntes zu erleben, das es hören, sehen, fühlen kann. Bereits mit Beginn des zweiten Lebensjahres entwickelt das Kind seinen eigenen Willen und erfährt auch erste Grenzen, wenn es zum Beispiel die Küchenschublade trotz der vielen aufregenden Sachen darin nicht ausräumen darf. Gegen Ende seines zweiten Lebensjahres erkennt sich das Kind erstmals im Spiegel. Hat es bis dahin eher einen Spielpartner in seinem Spiegelbild vermutet, so weiß es jetzt: Das bin ich! Bis es allerdings auch „Ichsagt, wenn es von sich redet, wird es meist noch einige Monate dauern.

Die „Entdeckung seines Ichs“ ist eine überwältigende Erfahrung:     

  • Das Kind erfährt nun, dass es etwas wollen und sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten entscheiden kann.
  • Es weiß inzwischen, dass es etwas selbst machen kann.  Das möchte es natürlich auch ausprobieren, auch wenn es allein einfach noch nicht klappt.

Jetzt ist es wichtig, Routinen und klare Strukturen beizubehalten, Grenzen zu setzen und Regeln festzulegen.

Die gesamte Entwicklung gestaltet sich als Lösung aus der Symbiose mit der Mutter.

Es läuft hinaus auf das getrennte Handeln und Leben, wachsende Selbständigkeit.

Das ruft Angst hervor, schon bei der Geburt und bei allen wichtigen Entwicklungsschritten des Kindes, und zwar Angst bei beiden: bei der Mutter und beim Kind.

Identität: heißt das Ich-Bewusstsein, Wiedererkennbarkeit herstellen mit den großartigen Möglichkeiten des Internets?

Identität: meint das, die Frage „Wer bin ich?“ geduldig wachsen zu lassen und dabei auch Angst zu haben?

Wir setzen uns mit einer Ur-Erzählung der Bibel auseinander: 1. Mose 3, 8 – 13

Wir können ihr die Überschrift geben: Wie Adam und Eva Ich sagen lernten.

Oder – Adam ist ja in der hebräischen Bibel der Prototyp des Menschen –  Wie der Mensch Ich sagen lernte. Achten Sie auf die Elemente dieser Entwicklung!

8 Adam und Eva hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des HERRN zwischen den Bäumen im Garten.

9 Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?

10 Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.

11 Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?

12 Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.

13 Da sprach Gott der HERR zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß.

Es fängt schon gut an:

8 Adam und Eva hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging …

Das ist neu!

Bisher war in der Paradieserzählung kein Geräusch zu hören.

2, 8   Und Gott der HERR pflanzte einen Garten …

2, 19 Und Gott der HERR machte aus Erde alle die Tiere …

2, 21 Da ließ Gott der HERR einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen …

Nirgends ist ein Geräusch zu hören.

Jetzt hören Adam und Eva plötzlich Schritte. Es hat sich etwas verändert.

Wir kennen das aus dem Verstecken-Spielen. Und Sich-Verstecken ist spannend:

Hören wir Schritte? Nähern sie sich? Entfernen sie sich wieder?

Interessant ist, dass uns das so viel Spaß macht.

Das steckt wohl tief in uns drin!

Es hat sich etwas verändert.

3, 7 Sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.

Vorher hieß es:

25 Und sie waren beide nackt, der Mensch und seine Frau, und schämten sich nicht.

Das ist die Veränderung: Sie schämten sich.

Sich schämen heißt: das Kapital an Ansehen und Anerkennung ist dahin.

 „Die eigentliche Tiefe der Erzählung liegt darin, dieses Nackt-Sein, dieses Bloßgestellt-Sein des Menschen… (voreinander, und dann auch noch) vor Gott als das Neue, als das, was, was jetzt anders geworden war, hinzustellen. … In das paradiesische Zusammensein bricht eine Störung ein: das Sich-Schämen, die Furcht, das Sich-Verstecken.“ (Westermann: Genesis S. 345)

Die Störung wird bearbeitet indem Gott kommt.

9 Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?

Der Anruf Gottes ist das Entscheidende. Mit diesem Anruf wird die Störung, die sich im Verstecken ausdrückt, deutlich. Und es wird sichtbar: Gott geht auf den Menschen zu.

Gott geht dem Menschen nach in sein Versteck. Er ist der, der sich um den Menschen kümmert.

11 Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?

12 Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.

13 Da sprach Gott der HERR zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß.

Gott fragt und provoziert, so dass der Mensch antwortet. In der Frage benennt er das Geschehene und gibt damit Raum, dass der Mensch antwortet, verantwortet, was er getan hat. Es entwickelt sich ein Dialog: der Mensch verteidigt sich. Die Verteidigung ist unzulänglich. Die Ursache der Tat bleibt offen.

Es kommt heraus, wo Adam ist, wer Adam ist:

  • einer, dem nachgegangen wird
  • einer, der angesprochen wird.

Damit werden Adam und Eva in die Freiheit der Welt entlassen.

Der jüdische Philosoph Martin Buber sagte einmal:

Identität, Ich- Bewusstsein, entsteht durch die Begegnung mit einem Gegenüber, dem „Du“. Dies ermöglicht die Abgrenzung des „Ich“ von seiner Umwelt. Dreh- und Angelpunkt ist die Beziehungsfähigkeit des Menschen zum „ewigen Du“ Gottes.

„Vielmehr ist das „ewige Du“ als notwendiger Fluchtpunkt der menschlichen Beziehungshaftigkeit zu sehen, als eine Art Kulmination aller menschlichen Relationalität.“ Ich-Bewusstsein entwickelt sich.

Das führt uns die Paradieserzählung vor Augen.

Als Entwicklungsmomente nennt sie:

  • das Verstecken,
  • die Scham: wohl die intensivste Form der Ich-Entdeckung.

„Ich schäme mich, also bin ich!“ schreibt der Theologe und Ethiker Klaas Huizing (Klaas Huizing: Scham und Ehre S. 60)

Wenn ich mich schäme, bin ich am intensivsten bei mir.

  • das Angesprochen werden,
  • die Gelegenheit zum Antworten
  • die Entlassung in die Freiheit.

Mein ich entwickelt sich im Gespräch mit dem „ewigen Du“ und im Zusammenspiel mit meinen Eltern und meiner Umwelt.

Ich muss also nicht auf das Chrysler Building in New York und auf den Art-Deco-Adler im 61. Stock steigen, um Menschen zu beeindrucken, besondere Fähigkeiten und Eigenschaften herauszustellen und zu zeigen, dass ich etwas kann, was andere nicht können.                                          

Ich muss es nicht selbst in der Hand haben, wie einen andere sehen.

Ich muss meine Selbstdarstellung, meine Impression nicht selbst managen. Ich bin freigestellt davon und kann leben, fröhlich leben. Gott sei Dank!

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