Es gibt Menschen, denen wir gerne etwas anhängen:
Um so einen Menschen geht es heute.
Er kommt mitten in der Passionsgeschichte des Matthäus vor.
3 Als Judas, der Jesus verraten hatte, sah, dass er zum Tode verurteilt war, reute es ihn, und er brachte die dreißig Silberlinge den Hohenpriestern und Ältesten zurück 4 und sprach: Ich habe gesündigt, unschuldiges Blut habe ich verraten. Sie aber sprachen: Was geht uns das an? Da sieh du zu! 5 Und er warf die Silberlinge in den Tempel, ging davon und erhängte sich. Matthäus 27, 3 – 5
In der christlichen Auslegungstradition ist es üblich geworden, die Reue des Judas abzuwerten.
Für Johannes Chrysostomos – einen der Kirchenväter – kommt sie zu spät und ist unvollkommen. Der vom Teufel eingegebene Selbstmord brachte Judas um die Frucht der Reue. Auch für die mittelalterliche Exegese ist die Reue des Judas „infructuosa“: unfruchtbar.
Selbst heutige fromme Protestanten sprechen nur von Reue, nicht von Buße (Otto Michel).
Auch der Selbstmord des Judas wird völlig negativ bewertet.
Der Kirchenvater Augustinus von Hippo sagte: „Gott hätte Judas in seiner großen Gnade gerne bei sich empfangen, hätte dieser nicht durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gesetzt.“
Papst Leo der Große nennt den Selbstmord für die unvergebbare Schuld des Judas.
Mittelalterliche Passionsspiele sehen Judas oft fest in den Händen des Teufels.
Im Alsfelder Passionsspiel schenkt Satan Judas das Seil. An dem kann er sich aufhängen.
Im Donaueschinger Passionsspiel steigt der Teufel vor Judas auf die an den Baum gestellte Leiter und zieht Judas am Seil hoch. Das Seil ist bis in die Hölle gespannt.
Im Laufe der Zeit wird Judas auch zum Prototyp der Juden. Er musste im gelben Gewand auftreten – daran waren damals schon die Juden erkennbar – eine gekrümmte, dicke Nase, wulstige Lippen und tiefe Furchen im Gesicht tragen. Er wurde zum Typus aller Verräter,
zum Paradebeispiel für Geldgier, zum Typus des falschen Büßers, zum Repräsentanten des Bösen.
Er wurde zum Projektionsobjekt all dessen, was die Christen ablehnten. Nicht selten endeten die Passionsspiele mit einem Juden-Pogrom, mit konkreter Verfolgung der Juden.
Bis heute ist Judas Chiffre für Jude, Kommunist, Ausländer, Migrant, Sozialbetrüger …
Von all dem ist im Matthäus-Text nichts zu finden. Dort heißt es: Judas bereute:
Was soll Buße darüber hinaus sein?
Warum ging er hin? Sein Motiv wird in Vers 3 angegeben:
er sah, dass Jesus zum Tode verurteilt wurde
Wollte er es soweit nicht kommen lassen? Hat er die Folgen nicht überblickt? Wir wissen es nicht. Matthäus lässt uns mit diesen Fragen allein.
Als Antwort bekommt Judas eine schroffe Ablehnung:
Da sieh du zu! – sagen die Hohenpriester und Ältesten.
Da sieh du zu! – eine totale Abfuhr: Judas wird aus dem Lebensbereich der Thora entlassen.
Wird er aus dem Lebensbereich des Judentums entlassen??
Matthäus bettet den Selbstmord in eine schroffe Abweisung ein: in einen sozialen Zusammenhang. Er begnügt sich nicht mit der isolierten, rein individuellen Sichtweise. Er reduziert das Geschehen nicht auf Selbstverzweiflung.
Judas ging davon und erhängte sich.
In der Bibel gibt es drei Sichtweisen zum Selbstmord:
Suizid ist etwas völlig Negatives, Gottvergessenes.
Die Orthodoxe Kirche hat sich übrigens für die zweite Variante entschieden: Für sie ist Judas sogar ein Heiliger, der durch sein Handeln den Plan Gottes befördert hat.
Heute wird Selbstmord oft mit Aggressionen in Verbindung gebracht:
Es sind Aggressionen nach innen, die nie nach außen abgeführt werden konnten und deshalb zur Selbsttötung führten.
Und im Vollzug der Selbsttötung sind es dann Aggressionen nach außen: Wer Hand an sich selbst legt, hinterlässt Fragen, kritische Fragen, an die Wurzeln des Lebens und unseres Zusammenlebens gehende Fragen: „Irgendwie haben wir etwas falsch gemacht!“
Wer Suizid begeht hinterlässt Aggressionen, tiefgehende Aggressionen. Eine Selbsttötung können wir nur schwer verzeihen.
Ein Selbstmord im Jünger-Kreis Jesu? Wirft das nicht ein schräges Licht auf den ganzen Jünger-Kreis? Und auch auf den Teamchef?
Die anderen Evangelisten, Markus, Lukas, Johannes lassen den Selbstmord aus.
Warum fügt Matthäus die Nachricht vom Selbstmord des Judas in seine Passionsgeschichte ein? Und warum bringt er das hier an dieser Stelle und nicht erst hinterher am Schluss, wenn alles vorbei ist, wenn Jesus tot ist, begraben?
Zwei Gründe nennen die Kommentatoren:
Er verschweigt nichts, er beschönigt nichts. Er schildert die Reue, er schildert das Weggestoßen-Werden. Er schildert den Selbstmord. Will er damit sagen:
Was hier geschieht, geschieht auch für Dich, Judas, geschieht auch für alle Judasse der Welt? Auch für alle, die wir zum Judas erklären und erklärt haben, auch für alle, die sich selbst Gott verschließen?
Karl Barth, der bekannte Theologe des 20. Jahrhunderts, spricht in diesem Zusammenhang von der „Übermacht der Gnade Gottes“, welche die Verwerfung des Sünders „überragt, überstrahlt … und regiert“. Die Bosheit des Judas bleibt stehen, aber die Zuwendung Gottes umgreift sie.
Helmut Gollwitzer, ein anderer Theologe des 20. Jahrhunderts schreibt in seinem Kapitel „Gute Botschaft für Judas Iskarioth“:
„Christus ist es, der die Folgen trägt, die Zerstörung meines Lebens durch meine Tat.
Er nimmt mich, mich mit sich identifizierend, in sein Leben, das von meiner Schuld frei ist.
Ich bin nicht mehr allein. Schuld isoliert, aber nun bin ich nicht mehr isoliert.“ (Helmut Gollwitzer: Krummes Holz – aufrechter Gang, S.280)
Judas – und auch den Juden – ist im Laufe unserer Geschichte Unendliches angehängt worden: alles Mögliche, womit wir Schwierigkeiten hatten, was wir bei uns selbst nicht wahrhaben wollten.
Der Mensch am Kreuz sagt uns: Das habt Ihr nicht mehr nötig! Ich heile Euch!
Ihr müsst andere nicht mehr belasten, um selbst gut dazustehen!