Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So stehet nun fest und lasst euch nicht wieder unter das Joch der alten Knechtschaft zwingen. Galater 5, 1
„Aus der Pandemie sollte man lernen: Freiheit bedeutet nicht, andere Menschen krank machen zu dürfen“ schrieb der SZ-Journalist Philipp Bovermann am 04. Dezember 20 ganz aufgeregt über die Querdenker-Demonstrationen. Er dürfte Zustimmung und Widerspruch geerntet haben.
Denn es gibt in unserer Gesellschaft zwei grundlegende Freiheitsverständnisse.
Das „liberale“ Freiheitsverständnis:
Ausgangspunkt des Denkens ist die Freiheit des Individuums. Der Einzelne, das Individuum ist frei,
zumindest steht ihm oder ihr Freiheit zu – und wenn er oder sie eingeschränkt wird, so ist dies zu bekämpfen. Leitziel ist die Freiheit des Individuums
Seine Wurzeln liegen in der Aufklärung, etwa ab 1650. John Locke (1632 – 1704, englischer Arzt und Philosoph) gilt als Vater des Liberalismus. Er postulierte in seinem 1689 veröffentlichten Werk Two Treatises of Government (Zwei Abhandlungen über das Regieren) Freiheit, Leben und Eigentum als unveräußerliche Rechte eines jeden Bürgers. Freiheit, Leben und Eigentum werden als elementare Menschenrechte angesehen.
Diese sind vor und von dem Staat zu schützen und haben Vorrang auch vor demokratisch herbeigeführten Entscheidungen.
Heute drückt sich dieses Freiheitsverständnis etwa so aus:
Das „geschichtliche“ Freiheitsverständnis:
Ausgangspunkt des Denkens ist die Abhängigkeit. Der Mensch kommt nicht als freies Individuum auf die Welt, sondern als Baby, als abhängiges Geschöpf, das gefüttert, gepflegt, gereinigt werden muss, das angesprochen werden muss.
Er lernt in diesem Prozess
Wir sind immer schon abhängig:
Wir müssen uns Freiräume des Handelns erst erarbeiten, verhandeln, oft sogar erkämpfen.
Wir sind gesellschaftliche Wesen und keine vereinzelten Atome.
Freiheit ist nicht Ursprung und Voraussetzung, sondern Resultat des gesellschaftlichen Lebens.
Freiheit bezeichnet Freiräume des Handelns, die in unserer Menschheitsgeschichte erkämpft wurden und, die durch gesellschaftliche und politische Institutionen – wie etwa das Rechtssystem – gefestigt und erhalten werden. Freiheit ist Resultat eines langen Prozesses der Befreiung.
Früher war Freiheit ein Privileg, ein Vorrecht: Der Freie hob sich aus der Masse der Unfreien heraus und gehörte zur herrschenden Schicht. Erst in der Moderne verbreitet sich langsam die Auffassung, dass alle Menschen – ungeachtet ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts – frei und gleich seien.
Menschen sind nicht schon immer frei, sondern sie befreien sich zur Freiheit und werden doch immer wieder in Abhängigkeiten verstrickt.
Auch für Martin Luther ist Freiheit ein ständiges Befreit-Werden. Er hat selbst eine große Befreiung erlebt. Er hat in seiner Biographie erlebt, was es heißt, immer unter dem Druck stehen zu müssen, einem bestimmten Anspruch gerecht zu werden: Die Gebote Gottes hat der junge Luther als etwas verstanden, was er erfüllen muss, um auf die offenen Arme Gottes hoffen zu können. Und er ist daran verzweifelt. Er hat getan, was er konnte:
Und er hat gemerkt, dass er daran scheitert.
Er ist dann auf diesen Satz in der Bibel gestoßen:
„Der Mensch ist allein gerechtfertigt aus dem Glauben und nicht aus den Werken.“ (Römer 3, 28)
Jetzt wurde ihm klar:
Modern ausgedrückt:
Das ist Freiheit, Befreiung!
Im November 1520 veröffentlichte er seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“.
Hier bringt er genau das in zwei berühmten Sätzen zu Ausdruck:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.“
Das heißt: Ein von seinen Selbstansprüchen und Leistungszwang freigesprochener Mensch ist ein freier Herr aller Dinge, auch keinen Fremdansprüchen untertan oder ausgeliefert.
Andererseits:
„Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Das heißt: Ein von Selbstansprüchen und Leistungszwang freigesprochener Mensch kann von sich und seiner Selbstverwirklichung absehen, kann für den Anderen da sein.
In dieser Spannung, in dieser Dialektik zeigt sich Luthers Vorstellung von Freiheit.
Luther verweist gerade nicht auf eine Freiheit, die ungebundene, individuelle und grenzenlose Autonomie bedeutet, in der der Mensch für sich selbst lebt. Frei ist der Mensch für ihn vielmehr dann, wenn er nicht seinen Ansprüchen hinterherjagt. Dann lebt die Christusorientierung in ihm und motiviert ihn, anderen Menschen zu dienen: ohne selbstbezogene Absichten, ohne weitläufige Erklärungen, einfach aus freigesetzter Zuwendung. In diesem Dienst verzichtet man nicht auf Freiheit, sondern realisiert sie.
Dies verlieh Luther die Unerschrockenheit, mit der er sein Leben riskierte, um seinem Gewissen zu folgen. Das kommt auch in seinem legendären Satz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ zum Ausdruck.
Heute würden wir es „Zivilcourage“ nennen. Menschen stehen zu dem, wovon sie überzeugt sind.
Menschen folgen ihrem Gewissen auch dann, wenn Autoritäten vielleicht etwas anderes sagen und wollen. Ganz dem Gewissen zu folgen, weil wir wissen, dass wir am Ende nur Gott selbst verantwortlich sind – das ist innere Freiheit!
Martin Luther zitiert Paulus:
Denn weil ich frei bin von allen, habe ich mich allen zum Knecht gemacht, um die Mehrzahl zu gewinnen. 1. Korinther 9, 19
Auch Paulus hat eine Befreiungsgeschichte hinter sich. Als griechisch gebildeter Jude und gesetzestreuer Pharisäer mit römischem Bürgerrecht verfolgte Paulus zunächst die Anhänger der Jesus-Bewegung.
Er beschreibt seine Verfolgungswut so:
13 Ich habe über die Maßen die Gemeinde Gottes verfolgt und sie zu zerstören versucht.
14 Ich habe viele meiner Altersgenossen in meinem Volk übertroffen und eiferte über die Maßen für die Überlieferungen meiner Väter. Galater 1, 13 – 14
Seine ganze Besessenheit kommt hier zum Ausdruck:
habe über die Maßen verfolgt,
habe sie zu zerstören versucht,
habe viele meiner Altersgenossen übertroffen,
eiferte über die Maßen.
Seine Befreiung von dieser Besessenheit bezeichnete dann er als „Offenbarung Jesu Christi“ (Gal 1, 12). Griech. „apokalypto“ = aufdecken, enthüllen, ans Licht bringen
Sein Übereifer, seine ideologische Besessenheit wurde also aufgedeckt, ans Licht gebracht und geheilt. Sein Lebensgrund und -ziel, seine Basis-Motivation wurde von Grund auf verändert.
Paulus schreibt:
Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So stehet nun fest und lasst euch nicht wieder unter das Joch der alten Knechtschaft zwingen. Galater 5, 1
Christus hat uns befreit und in die Freiheit gestellt, so dass wir nun in ihr „stehen“.
Er macht uns restlos frei, indem er uns loslöst aus dem „Kreisen um uns Selbst“ und um andere „Lebensmächte“.
Christen stehen in der Freiheit: Es ist ein „Aufrechtstehen“ im Gegensatz zum Nacken-Beugen.
Es ist ein von Gott gehalten werden.
Damit fällt ein klares Licht auf die Ausgangsfrage:
Freiheit bedeutet nicht, andere krank machen zu dürfen – weder mit Tröpfchen noch mit Abgasen.
Freiheit bedeutet nicht, einfach das Kapitol zu stürmen und das Ergebnis einer Wahl zu ignorieren,
um den Vertreter der eigenen Meinung durchzusetzen.
Der Maßstab für die Freiheit besteht in dem Wohl Anderer. Es ist ungerecht, vermeintliche Freiheiten auszuleben, wenn anderer Menschen Freiheiten dadurch beschränkt werden.
Wer für die Freiheit des Einzelnen gegen die Vorsorgemaßnahmen des Staates zur Eindämmung der Pandemie demonstriert, trifft das Herz christlicher Freiheit. Freiheit ist Befreiung aus Selbstbezogenheit und aus Fremdansprüchen und damit immer auch Freiheit der Andersdenkenden.