Dieter Pohl Organisationsentwicklung Organisationsentwicklung, Mediation, Coaching

Dieter Pohl Organisationsentwicklung
… wickelte ihn in Windeln

Das Jahr war außergewöhnlich:

Holzdecke um 1114, St. Martin in Zillis, (Foto: Dieter Pohl)

Flüge storniert, Universitäten, Schulen und Kitas geschlossen, die Fußball-Europameisterschaft verschoben, der Restaurantbetrieb untersagt, Home-Office eingerichtet: Die Welt, wie wir sie kennen, hat abgebremst, ist fast zum Erliegen gekommen.

Und wir konnten kaum etwas dagegen tun, zeigten uns reichlich ohnmächtig. Irgendwie ist unsere   Steuerungsfantasie ausgeträumt. Wir merken, wir haben nicht alles in der Hand. Wir können nicht alles steuern. Wir sind abhängig. Wir sind abhängig voneinander – und nicht nur das: Wir sind abhängig von einem größeren Zusammenhang, etwas Größerem, wie immer wir den bezeichnen mögen:

  • vom Prozess der Evolution,
  • vom Lauf der Dinge
  • vom Schicksal,
  • von Gott,
  • vom Absoluten, Unbenennbaren.

Wir müssen als Mensch des 21. Jahrhunderts, als homo sapiens einsehen: wir sind abhängig von dem, was uns ein Virus antut.

Virus (lat.):

  • minimale, zähe Feuchtigkeit, Schleim,
  • infektiöse, organische Struktur,
  • vermehrt sich innerhalb einer geeigneten Wirtszelle.

Wir erfahren, erleben, erleiden Kontrollverlust. Den Generationen vor uns war das aufs Fürchterlichste vertraut. (Krieg, Seuchen, Naturkatastrophen).                                                                                                     

Und mit dieser Verletzung gehen wir um, wie wir immer mit Kränkungen und Verlusten umgehen:

  • Die Einen befinden sich in der Schockstarre: Sie können es nicht glauben. Sie verleugnen die Realität. Und wenn sie ein Stück Realität zulassen, zeigen sie auf Andere: „Schuld sind die Anderen“
  • Die anderen kämpfen dagegen. Sie halten es für Machtmissbrauch. Sie suchen Gleichgesinnte im Internet. Sie verbreiten Verschwörungstheorien. Sie demonstrieren.
  • Die dritten wollen in Ruhe gelassen werden. Sie schalten die Medien ab: „Jeden Tag Corona, da wird man ja verrückt!“
  • Die vierten stellen sich den Corona-Maßnahmen: Sie tragen Masken, halten Abstand, halten die Ausgangs- und Einladungs-Regeln ein. Es ist die Mehrheit – Gott sei Dank! – .
  • Ein fünfter Teil beklagt sich, dass er ungerecht behandelt wird. Die Staatshilfen gehen woanders hin oder sind für den eigenen Bereich zu gering.
  • Und dann gibt es noch die Gruppe, die sich einsetzt, dass es bald anders wird: Die Pfleger, Krankenschwestern, die Ärzte, die Mitarbeiterinnen in den Gesundheitsämtern, die pädagogischen Berufe, die sozialen Berufe, diejenigen, die den Verkehr regeln, viele Politiker usw. Großen Dank!

Das ist völlig normal.

Es ärgert uns, aber all diese Trauerphasen haben wir in uns.

So reagieren wir, wenn ein Verlust, ein Trauerfall, eine Trennung, eine Kränkung zu verkraften ist:

Erst Schock, Verleugnung, Protest, dann Annäherung an die schwierige Nachricht, mühsame Aneignung, zögerliches Anpacken, Kooperation, Integration in unser Leben.

Schwierig wird es, wenn wir in diesen Trauerphasen steckenbleiben, oder wenn sie gar zum politischen Machtgewinn genutzt werden.

Der Virus fügt uns Menschen und unserem Bild von uns selbst eine tiefe Kränkung zu.

Petra Bahr schreibt:

„Die größte Selbstanmaßung der Moderne liegt in der Abschaffung des Schicksals.

„Du hast es selbst in der Hand.“ Die Verwandlung des Schicksals in Selbstsorge und Selbststeuerung hat Scham, Schuld, Versagensangst und Fluchtbedürfnisse in Unterwerfungskontexte im Schatten.

Hinter der maßlos gesteigerten Autonomie lauert eine uneingestandene Fremdbestimmung.

Was ist der Mensch? Was kann er wissen? Was soll er tun? Was kann er hoffen?“ (Petra Bahr: Morsche Selbstsichten, in: zeitzeichen 10/20)

Wir kommen zur Weihnachtsgeschichte:                                                                                                              6 Als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. 7Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. 8Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. (Lukas 2, 6 – 8)

Warum erwähnt Lukas hier überhaupt die Windeln und die Krippe, den Futtertrog? Ist das nicht malerisches Beiwerk? Die Weihnachtsgeschichte erfährt doch keinen Abbruch, wenn wir das einfach weglassen? 6Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.7Und sie gebar ihren ersten Sohn. … 8Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde.

Diese Sätze umfassen inhaltlich das Geschehen, das Lukas erzählen will. Wieso setzt er diese Bemerkung hinzu: und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe;

Der Volksmund dichtet:

„Windeln wechseln, viel Geschrei, Hunger, meistens nachts um drei,

Fieber, Bauchweh, Zähne kommen, eure Freiheit wird genommen. Eure Ruhe ist vorbei.“             

In diese Wirklichkeit geht Gott – sagt Lukas –  ganz nach unten, in unseren Lebensalltag kommt er,

  • in den Mief der Welt, in den Dreck der Welt,
  • in das, was wir nicht verstehen, was uns bedrängt,
  • worunter wir leiden,
  • in die tiefsten Tiefen unserer Wirklichkeit.

Gott bleibt nicht draußen.

Er zeigt sich nicht als der Regisseur, der von außen in die Welt hineinregiert und uns damit alle Verantwortung abnimmt.

Er kommt hinein in unsere Welt, unseren Alltag, in die schwierigen Stunden unseres Lebens,

in unseren Kampf mit dem Virus, ja bis in die Windeln.

Er geht mit uns in die Krankheiten, ins Leiden – das hat er in Christus Schritt für Schritt getan.

Damit gibt er uns die Kraft, das alles zu durchstehen und dagegen anzukämpfen.

Das ist die Botschaft des Lukas!

Sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.                 

Die Windeln sagen aber auch noch etwas über uns Menschen.

Der kamerunische Philosoph und Historiker Achille Mbembe erinnert:

„Wir sind nicht die einzigen Bewohner der Erde und stehen nicht über den anderen Lebewesen.

Wir sind durchzogen von Interaktionen mit Mikroben, Viren, pflanzlichen, mineralischen, organischen Kräften. Wir werden zum Teil aus diesen anderen Lebewesen gebildet.

Aber sie zersetzen uns auch, setzen uns neu zusammen.

Sie formieren uns und deformieren uns, unsere Körper, unsere Umgebung, unsere Arten zu leben. Diese grundlegende Verletzlichkeit macht das Wesen der menschlichen Art aus, aber auch das aller anderen, die diesen Planeten bevölkern.“ (Achille Mbembe: Was wirklich zählt, SZ 05.08.20)

Ja, wir sind Teil des Lebens, des Wachstums-Prozesses und des Zersetzungs-Prozesses.

Und mitten drin tragen wir Verantwortung, Verantwortung für das Leben, auch in der Pandemie:

Wir können die Verantwortung nicht so einfach abschieben, wenn sie uns nicht passt.

Wir dürfen aber auch das Maß unserer Möglichkeiten nicht überschätzen, und so einfach sagen: „Wir haben das schon alles im Griff!“

Die Weihnachtsgeschichte erinnert uns an unser menschliches Maß.

Darüber lohnt es sich zu reden:

  • Wer wir sind, wer wir sein wollen,
  • Was wir tragen wollen, wofür wir uns einsetzen wollen,
  • und was wir dem größeren Zusammenhang,

die Einen nennen es den „Lauf der Dinge“,

die Anderen der „evolutionären Entwicklung“,

die Christen nennen ihn „Gott“

anvertrauen wollen.

Dazu brauchen wir Vertrauen: eine Zuversicht aufgrund erlebter Zuverlässigkeit. Sie gibt Kraft und Orientierung, lässt das Leben erblühen. Misstrauen erschlägt das Leben.

Kommentare sind geschlossen.