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Insel Foto Dieter Pohl
Schutz vor Ansteckung – Zuwendung zu Isolierten

In diesen Corona-Zeiten haben wir ältere und kranke Menschen bis hin zum Sterben isoliert.


Insel (Foto: Dieter Pohl)

Das lässt uns nicht los und wird in der Öffentlichkeit auch immer wieder thematisiert.

In diesem Zusammenhang will ich nochmal an zwei zentrale Verse aus dem Neuen Testamentes erinnern.

Sie stammen aus der Erzählung vom Weltgericht: Matthäus 25, 35 – 36

35 Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. 36 Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen.            

Es geht in ihnen um Identifikation. Das Wort geht zurück auf lat. idem: „derselbe“, facere: „machen“ und bedeutet wörtlich: „sich zu demselben machen“, „gleichsetzen“.

Die ersten Christen haben Christus

  • wiedererkannt im hungrigen Menschen,
  • gleichgesetzt mit durstigen Menschen,
  • identifiziert mit Fremden, Nicht-Einheimischen, von woanders Gekommenen,
  • wiedererkannt in nackten Menschen, die nichts mehr anzuziehen haben,
  • gleichgesetzt mit Kranken, die Angst haben und einsam sind,
  • identifiziert mit Gefangenen

Intensiver kann man eine Beziehung nicht beschreiben.

Intensiver können wir eine Zuwendung nicht bezeichnen.

Anders ausgedrückt: Die Zuwendung zum Hungrigen, Durstigen, Nackten, zum Fremden hat Priorität, hat Christus-Qualität,

Die Zuwendung zum einsamen Kranken hat Priorität, hat Christus-Qualität.

Haben wir das in der Corona-Krise gelebt? Leben wir das heute noch?

In der Corona-Zeit gab und gibt es zwei Optionen:

der Schutz vor Ansteckung und die Zuwendung zum Isolierten.

Staatlicherseits hatte und hat der Schutz vor Ansteckung Priorität, der Schutz der Bevölkerung.

Nach unserem Glauben hat die Zuwendung zum isolierten Kranken Priorität.

Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm nannte es einen „unauflöslichen Zielkonflikt“ zwischen Wunsch nach Nähe und Lebensschutz. (FAZ vom 25.5.2020)  

Wir wollen uns Rat holen bei Martin Luther.

Um 1530 schrieb der Breslauer Reformator Johann Heß, Pfarrer an der dortigen Magdalenenkirche, an Martin Luther:

Ob man vor dem Sterben fliehen möge?

Wir würden fragen: Darf man vor dem Sterben fliehen?

Ob Christen bei Seuche die Stadt verlassen dürften?

In Breslau war offenbar die Pest ausgebrochen oder sie drohte auszubrechen.                       Luther antwortete: Aus dem Glauben folgt die Dienstbarkeit dem Nächsten gegenüber.  

Glaube ist ohne Zuwendung nicht denkbar: Priorität hat also die Dienstbarkeit, die Zuwendung.

Er führt das noch genauer aus:

Privatpersonen haben Verpflichtungen gegenüber Angehörigen, Freunden, Nachbarn;

Amtspersonen – Pfarrer wie Magistrat, ebenso Ärzte et cetera – haben Verpflichtungen ihren Gemeinden gegenüber.

Er macht allerdings eine Einschränkung:

Dort, wo ihre Aufgaben nicht durch andere wahrgenommen werden können, wo also eine Flucht Not und Schaden verursachen würde, sind sie es den Gefährdeten schuldig, zu bleiben:

„Denn wo einer […] liesse seinen nehesten so ligen ynn nöten und flohe von yhm, der ist fur Gott ein mörder“ (WA 23, 353, 14f.).

Dort hingegen, wo sie ersetzbar sind oder sich vertreten lassen können, liegt es in der Freiheit der Gewissen, sich zur Flucht zu entscheiden oder nicht.

Der Maßstab für die Entscheidung besteht in dem Wohl Anderer. Ist das Wohl Anderer nicht betroffen, darf auch der Christenmensch sich der Gefahr entziehen, wenn er dies für richtig hält – zumal dann, wenn sein Glaube nicht stark genug ist, um sich der Angst um sich selbst entledigen zu können.

Luther´s Antwort umfasst fünf Punkte:

Erstens: Die Sorge um Leib und Gesundheit ist nichts Verwerfliches. Mit dem eigenen Körper ist achtsam umzugehen. Deshalb gehört Flucht vor physischer Gefahr, sofern Andere nicht geschädigt werden, durchaus zu den Handlungsoptionen. Luther ergänzt noch eine öffentliche, strukturelle Komponente. Er empfiehlt die Einrichtung von Spitälern, um die Notlazarette in den Privathäusern der Bürger zu vermeiden. Und er rät zur Verlegung der Friedhöfe außerhalb der Stadt.           

Zweitens: Luther kann die Absonderung – Isolierung – der Kranken durchaus empfehlen. Er beruft sich dabei auf 3. Mose 13, 46: 45 Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! 46 Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein. Allerdings sollen die Kranken nicht zu stummen Objekten behördlicher Anordnungen werden, sondern Subjekte selbstverantworteten Handelns bleiben: „das so sie [sc. die Krankheit] yemand kriegt, sich als balde von den leuten selbst (weg-) thu odder thun lasse“ (WA 23, 369, 23f.).Sie sollen einverstanden sein mit den Isolationsmaßnahmen. (hoher Maßstab: selbst wegtun …) Das setzt die Möglichkeit voraus, dass das Einverständnis auch verweigert wird.

Drittens: Die (Selbst-)Absonderung der Kranken bedeutet nicht die Verweigerung von Hilfe oder die Isolation der Kranken von Helfern. Luther wusste genau um die Gefährlichkeit körperlicher Kontakte in Zeiten der Pest. Er lehnte jede Mutwilligkeit mit scharfen Worten als Versuchung Gottes ab. Ihm kam es aber auch nicht in den Sinn, sich von Kranken fernzuhalten, um sich selber zu schützen oder eine Weitergabe des Erregers an Andere zu verhindern. Den Primat (= Priorität) hat vielmehr der Anspruch des bereits Erkrankten auf Zuwendung: „Da sol man yhm helffen und ynn solcher not nicht lassen“ (WA 23, 369, 25f.).

Viertens: Nach Luther folgen Handlung und Wirkung – Kontakt und Ansteckungsgefahr – nicht unausweichlich aufeinander. Er rechnet mit dem Unkalkulierbaren. Wer sich in die Nähe von Kranken begibt, muss nicht selbst krank werden. Wer umgekehrt die Stadt verlässt, um sich in Sicherheit zu bringen, kann dennoch umkommen. Der Mensch hat nicht alles in der Hand.

Gott geht mit ihm.

Dieser Gedanke an das Wirken Gottes führt keineswegs zu Schicksalsergebenheit, wohl aber zu Gelassenheit: „Darnach wil ich auch reuchern, die lufft helffen fegen, ertzney geben und nemen, meiden stet und person. … auff das ich mich selbs nicht verwarlose und dazu durch mich villeicht viel andere vergifften und anzunden (anstecken) möchte und yhn also durch meine hinlessickeit (Nachlässigkeit) ursach des todes sein.  Wil mich mein Gott daruber (dabei) haben, so wird er mich wol finden: so hab ich doch gethan was er mir zu thun gegeben hat, und bin widder an meinem eigen nach ander leute tode schuldig. Wo aber mein nehester mein darff, will ich widder stet noch person meiden, sondern frey zu yhm gehen und helffen […]. Sihe das ist ein rechter Gottfurchtiger glaube, der nicht thumkune [dummdreist] noch frech ist und versucht auch Gott nicht.“ (WA 23, 365, 31 – 367, 9.)

Und fünftens: Luther hält trotz Ansteckungsgefahr oder gerade „ynn solchen sterbens leufften“

(WA 23, 371, 8) an Gottesdiensten fest. Hier lernen Menschen „Gotts wort, wie sie leben und sterben sollen“ (WA 23, 371, 371, 11f.). Das wirft ein kritisches Licht auf den vorauseilenden Gehorsam, mit dem unsere Kirchen auf Präsenz-Gottesdienste verzichtet haben. Sicher können Menschen auch im Livestream- Gottesdienst „Gotts wort [lernen], wie sie leben und sterben sollen“ (WA 23, 371, 371, 11f.). Aber wo bleibt der, der sich mit dem Internet nicht so gut auskennt …?

Ich finde es erstaunlich,

  • wie klar sich Luther an die im Neuen Testament zu findende Priorität hält: Die Zuwendung zum Isolierten hat Christus-Qualität, hat Vorrang vor allem Anderen,
  • und gleichzeitig wie differenziert er sich und uns vor Einseitigkeiten bewahrt:
  • Wo jemand schon Zuwendung bekommt, muss ich nicht auch noch hin. Ich muss Zuwendung nicht doppeln und damit die Ansteckungsgefahr vergrößern
  • Die Isolierung von Personen ist manchmal notwendig, aber sie kann nicht gegen deren Willen geschehen.
  • Die Sorge um Körper und Gesundheit ist nichts Verwerfliches. Die Ansteckungsgefahr bei Seuchen ist real. Den starken Mann oder die starke Frau zu spielen und sich nicht zu schützen ist eine Versuchung Gottes.
  • Der Gottesdienst prägt unsere Grundhaltung zum Leben und zum Sterben. Deshalb ist er – gerade in Krisenzeiten – unverzichtbar.

Und was mir bei dieser Antwort Luthers am meisten Spaß macht:

Der Glaube, dass wir nicht allein sind, gibt uns Freiheit:

Welche Lebensmöglichkeiten schneiden wir uns eigentlich ab, wenn wir Kontakt und Ansteckungsgefahr so linear aufeinander bezogen, so kalkulierbar denken? Wieviel Angst, Enge lösen wir damit aus, dass wir so oft das unberechenbare Wirken Gottes außer Acht lassen?

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