Dieter Pohl Organisationsentwicklung Organisationsentwicklung, Mediation, Coaching

Dieter Pohl Organisationsentwicklung
Wohin steuert uns unsere Gotteserkenntnis?

Wir befinden uns im Jahr 594 vor Christus. Fremde Gesandte sind in Jerusalem, die Vertreter der Nachbarreiche Edom, Moab, Ammon und der beiden wichtigsten Phönizierstädte Tyrus und Sidon.

Kampf um Gotteserkenntnis (kath.net)
Kampf um Gotteserkenntnis (kath.net)

Was wollen sie bei Zedekia, beim König Judas? Sie wollen einen Aufstand gegen Nebukadnezar, den großen König von Babylon, verabreden. Wir wissen nicht genau, ob Zedekia noch für den Aufstand gewonnen werden muss oder ob dies schon geschehen ist, und demzufolge weitere Maßnahmen zur Organisation des Aufstandes geplant werden sollen.

Die Lage erschien günstig: Nebukadnezar hatte die Stadt Jerusalem drei Jahre zuvor eingenommen, und einen großen Teil der judäischen Oberschicht nach Babylon deportiert. Dabei war der König Jojachin. Seinen Bruder Zedekia hatte er zum Vasallenkönig eingesetzt. Doch jetzt schwächelte Nebukadnezar. Er musste sich in seinem eigenen Reiche eines Aufstandes erwehren.

Und in Ägypten war ein neuer Pharao Psammetich II an die Macht gekommen. Er betrieb eine sehr aggressive Außenpolitik, um seine Einflusssphäre zu vergrößern. Auf ihn richtete sich die Hoffnung, dass er zu Hilfe kommen würde, wenn man einen Aufstand gegen Nebukadnezar wagte.

Die Jerusalemer Konferenz erregte die Gemüter der Hauptstadt mächtig. „Aufstand oder nicht?“ diese Frage dominierte das Tagesgespräch.

Auch der Prophet Jeremia tat seine Meinung kund. Er hatte schon viel und oft geredet vor allem gegen die Selbstüberschätzung und für den Realitätssinn. Diesmal will er seinen Worten Nachdruck verleihen. Er inszeniert eine Zeichenhandlung. Er bindet sich ein Rinderjoch auf seine Schultern und seinen Nacken. Eingeschirrt wie ein pflügendes oder dreschendes Rind marschiert er demonstrierend durch die Stadt. Seine Botschaft: „Unterwerft Euch Nebukadnezar, so werdet Ihr überleben! Ihm hat Gott im Augenblick die Macht gegeben! Wenn Ihr den Aufstand wagt, geratet Ihr unter das Joch des ägyptischen Pharaos! Dann werdet Ihr untergehen!“

Die Erzählung findet sich im Propheten Jeremia 27, 1-7:                                                               

27.1 Im Anfang der Herrschaft Zedekias, des Sohnes Josias, des Königs von Juda, geschah dies Wort vom Herrn zu Jeremia: 2 So sprach der Herr zu mir: Mache dir Stricke und Jochstangen und lege sie auf deinen Nacken 3 und schicke sie zum König von Edom, zum König von Moab, zum König der Ammoniter, zum König von Tyrus und zum König von Sidon durch die Boten, die zu Zedekia, dem König von Juda, nach Jerusalem gekommen sind, 4 und befiehl ihnen, dass sie ihren Herren sagen: So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: So sollt ihr euren Herren sagen: 5 Ich habe die Erde gemacht und Menschen und Tiere, die auf Erden sind, durch meine große Kraft und meinen ausgereckten Arm und gebe sie, wem ich will. 6 Nun aber habe ich alle diese Länder in die Hand meines Knechts Nebukadnezar, des Königs von Babel, gegeben und auch die Tiere auf dem Felde, dass sie ihm untertan sein sollen. 7 Und es sollen alle Völker ihm dienen und seinem Sohn und seines Sohnes Sohn, bis auch für sein Land die Zeit kommt, dass es vielen Völkern und großen Königen untertan sein muss.

Jeremia reichten seine Worte nicht. Er unterstrich sie durch ein drastisches Bild.

Wie eine Kuh schleppte er auf seinem Nacken ein Joch, ein Zeichen der Unfreiheit.

So wird es Euch ergehen, wenn Ihr einen Aufstand wagt.

Woher nahm Jeremia seine Überzeugung?  Woher hatte Jeremia diesen Mut, so aufzutreten?

Er hatte wohl die machtpolitischen Entwicklungen rings um Juda sehr genau beobachtet:

den Niedergang der Assyrer, die neue Bewegungsfreiheit Judas und der benachbarten Kleinstaaten,

den Aufstieg der Babylonier und die Titelambitionen des neuen ägyptischen Pharaos.

Er hatte wohl auch die Fähigkeit, die machtpolitischen Kräfteverhältnisse sehr genau einzuschätzen.

Und er hatte den Mut, etwas zu denken, was noch kein Israelit und noch kein Judäer vor ihm gedacht hatte: Nebukadnezar ist Knecht Gottes!

V.6:   hebr.: abdi  = meines Knechtes

Das schlug dem Fass den Boden aus.

Bisher wurde immer gedacht: Der israelitische König oder der judäische König ist Knecht Gottes.

Ebed Jahwe  = der Knecht Gottes, der Beauftragte Gottes der Bevollmächtigte Gottes

Durch ihn beschützt Gott sein Volk! Das sollte jetzt nicht mehr gelten???

Und das in einer Zeit, in der das ganze judäische Königtum wackelte? – ein Königtum von Nebukadnezars Gnaden war?

Jeremia hat die größere, die weitere Perspektive!

Sie können sich denken, wie verärgert man in Jerusalem war: vor allem der König, seine Beamten und die Priester. Sie spürten, wie dies ihre Macht bedrohte. Sie warfen Jeremia Duckmäusertum, Erfüllungspolitik gegenüber Babylonien, Verrat am eigenen Volk vor.

Und als Jeremia mit dem Joch auf dem Nacken in den Tempel kam, trat ein Gegenprophet auf, namens Hananja. Er sprach auch im Namen Gottes. Die Begegnung wird ein Kapitel weiter so geschildert:

Jeremia 28, 10-11:                                                                                                                                                       10 Da nahm der Prophet Hananja das Joch vom Nacken des Propheten Jeremia und zerbrach es. 11 Und Hananja sprach in Gegenwart des ganzen Volks: So spricht der Herr: Ebenso will ich zerbrechen das Joch Nebukadnezars, des Königs von Babel, ehe zwei Jahre um sind, und es vom Nacken aller Völker nehmen. Und der Prophet Jeremia ging seines Weges.

Offenbar hatte Jeremia keine Botschaft mehr. Seine neue Gotteserkenntnis bricht sich nicht gleich Bahn. Sie bleibt stecken. Es kommt zunächst einmal zur Pattsituation, zum Unentschieden.

Es war eine hochriskante theologische Aussage: Nebukadnezar ist der Knecht, der Beauftragte Gottes. Das sprengte sämtliche Vorstellungen von Gott! Gott Israels – das hieß: Er streitet für Israel.

Die anderen Völker ringsum haben auch ihre Götter. Im Wettkampf, im Streit miteinander, im Krieg stellt sich heraus, wer stärker ist.

Der Prophet Jeremia durchbrach dieses Dogma: Jahwe, Euer Gott, hat nicht nur mit Euch etwas zu tun, sondern auch mit den Babyloniern, ja mit der ganzen Welt.

Neue Erkenntnisse brauchen Zeit. Es dauerte lange bis diese Erkenntnis sich Bahn brach.

Es war einige Jahre später die babylonische Gola, die Israeliten, die im Exil saßen, die an den Wassern saßen und trauerten (Psalm 126), die während ihres Aufenthaltes mühsam am eigenen Schicksal erfuhren, buchstabieren lernten: Gott steckt auch hinter dem Geschehen, was uns widerfahren ist!

50 Jahre später – die Geschichte ist längst weitergegangen zum nächsten Großreich – konnte die Gruppe um den Zweiten Jesaja sagen: Darius, der Perserkönig, ist der Knecht, der Beauftragte Gottes, der die Babylonier niederwirft und uns befreit! (Jesaja 45,1) Er ist nicht nur unser Gott – eine Erkenntnis, die auch in unseren Tagen immer wieder neu errungen werden muss.

Ein Beispiel: Religionsunterricht für alle – Ein Modell für Hamburg.

Der Deutschlandfunk berichtete vor Kurzem: „Hamburg geht einen Sonderweg. Dort gibt es einen gemeinsamen Religionsunterricht für alle. Konkret heißt das: Die Kinder und Jugendlichen unterschiedlicher Konfession und Religionen werden nicht getrennt. Sie werden gemeinsam unterrichtet von alevitischen, muslimischen, jüdischen, evangelischen und vielleicht auch katholischen Religionslehrern. Immer im Wechsel. Das ist zumindest das Ziel. Das bundesweit bisher einzigartige Modell wurde im Dialog zwischen der Schulbehörde und den Religionsgemeinschaften jahrelang vorbereitet.

Begründung: Wir leben in einer multikulturellen und multireligiösen Stadtgesellschaft. Über die Hälfte der Schülerinnen und Schüler in den Grundschulen hat Migrationshintergrund. Das bedeutet in der Regel auch eine Vielfalt der Religionen und Konfessionen, die in den Elternhäusern gepflegt werden. Eine Stadt kann nur zusammenleben, ein Land kann nur zusammenleben, wenn die Menschen miteinander reden, wenn sie ihre Vorstellungen, die sie tragen, auch wechselseitig kennenlernen. Und auch dazu ist der Religionsunterricht für alle wichtig.

Erfolg: Bisher hat es eine Abmeldequote vom Religionsunterricht von weniger als 0,1 Prozent gegeben.“

Könnte das auch ein Modell für Gemeindearbeit werden? Regelmäßige Veranstaltungen für alle?

Interreligiöse Gespräche? Ich denke alle Beteiligten können viel voneinander lernen.

Was es dazu braucht:

„Der Systematische Theologe Wilfried Härle hat in solche Diskussionen schon vor Jahren den Begriff des positionellen Pluralismus eingebracht. Er verbindet zwei Elemente miteinander: die Notwendigkeit, eine eigene religiös-weltanschauliche Identität zu entwickeln und in einer kritisch angeeigneten Position zu Hause zu sein, sowie die Fähigkeit, mit anderen Positionen in einen Dialog einzutreten, von ihnen zu lernen und dadurch weiter zu reifen.“ (zeitzeichen 1/2020)    

Ein Stück davon scheint bei Jeremia durch:

  • Klar, er hat eine Position.
  • Er hat sie durch eine kritische Gegenwartsanalyse unterfüttert.
  • Er hat seine Gotteserkenntnis einer Erweiterung ausgesetzt.
  • Er hat sie nicht nur gesagt, sondern sogar demonstriert.
  • Er hat Widerspruch bekommen, massiven Widerspruch.
  • Mit Gewalt wurde das Joch von seinem Nacken gerissen.
  • Sicher hätte er auch noch den Dialog suchen können. Das fehlt. Aber es gibt auch die Situation, in der es besser ist, erstmal zu gehen.

Er stellt uns die Frage:

Wohin steuert uns unsere Gotteserkenntnis?

  • Steuert sie uns zu alten Gräben? „Wir haben die richtige Gotteserkenntnis!“
  • Steuert sie uns zu neuer Achtsamkeit, zu neuem Hinhören, zu neuem Wahrnehmen in dieser Welt?

In welchen Entwicklungen könnte sich Gott kundtun?

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