Dieter Pohl Organisationsentwicklung Organisationsentwicklung, Mediation, Coaching

Dieter Pohl Organisationsentwicklung
Woher kennst du mich?

Eine Fitness-Uhr: Sie kann neben der Tageszeit die Anzahl meiner Schritte anzeigen. Sie zählt meine Schritte während ich sie am Arm trage. Sie rechnet auch die Kilometer aus, die ich heute zurückgelegt habe, die Kalorien, die ich heute schon verbraucht habe. Und sie zeigt auch die augenblickliche Herzfrequenz, den Pulsschlag an. So kann ich jetzt sehen, wie aufgeregt ich bin.

Fitness Uhr (rundschau-online.de)
Fitness Uhr (rundschau-online.de)

Wenn ich jetzt die Entwicklung meiner körperlichen Fitness sehen will, wenn ich z.B. meine Fitness mit der von letzter Woche vergleichen will, muss ich die hier gewonnen Daten auf mein Smartphone übertragen. Dort habe ich dann eine übersichtliche Tabelle, in der ich meine zurückgelegten Kilometer, die verbrauchten Kalorien, die Kurven meiner Herzfrequenz ablesen kann.

Die Übertragung geschieht übers Internet, d.h.: auch andere Leute können meine Fitness-Daten einsehen. Das könnte z.B. besonders interessant für meine Krankenkasse sein: Erhalte ich mich durch Sport fit, könnte sie meine Beiträge senken, denn ich helfe ja auch mit, meine Gesundheitskosten zu mindern. Umgekehrt: Tue ich nichts für meine Gesundheit,

könnte sie sagen: Du erhöhst dein Risiko für Krankheiten, wir erhöhen deinen Beitrag.

In unseren Tagen werden immer mehr solche Daten-Messgeräte entwickelt:

  • das Pflaster auf dem Babybauch, das den Eltern die Temperatur des Säuglings über das Internet meldet.
  • das Blutzucker-Messgerät für ältere Menschen, das die Glukose-Werte mit ihrer Ernährung und ihren Medikamenten abgleicht.

Vor einigen Wochen titelte die New York Times: „Gesichtsscan-App bringt das Ende der Privatsphäre näher“. Die Zeitung veröffentlichte eine Recherche darüber, wie das US-Unternehmen Clearview eine Datenbank mit Fotos menschlicher Gesichter aufgebaut hat.

Mehr als drei Milliarden Fotos hat Clearview aus öffentlich, digital zugänglichen Quellen (Facebook, Instagram, Youtube, WhatsApp usw.) abgesaugt. Das Unternehmen hat alle Fotos nach Gesichtsmerkmalen gerastert, in eine Datenbank gesammelt, so dass die Software in der Lage ist die Gesichter bei Erscheinen sofort wieder zu erkennen. So kann sofort erkannt werden, wo ich mich bewege.

Weltweit breitet sich die Gesichtserkennung aus. Russland identifiziert damit Demonstranten.

Frankreich will allen Bürgern eine „digitale Identität“ geben, die an ihr Gesicht geknüpft ist.

China lässt nicht nur Uiguren, sondern einen Großteil der Bevölkerung mit Kameras überwachen.

Auch in Deutschland will der Innenminister – so wurde in dieser Woche bekannt – an 135 Bahnhöfen und 14 Verkehrsflughäfen Kamerasysteme installieren.

Der Überwachungsstaat lässt grüßen!

Wir werden erkannt. Nicht selten erschrecken wir: Wieso kommt die Werbung für genau die Sachen, die ich vor drei Tagen gesucht habe, ausgerechnet zu mir? Woher kennen die mich?

„Woher kennst Du mich?“ ist die Frage, um die sich ein Bibeltext rankt: Johannes 1, 45 – 51

45 Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth. 46 Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh! 47 Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist. 48 Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen. 49 Nathanael antwortete ihm: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel! 50 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das. 51 Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.

Der Text strahlt eine gewisse Unmittelbarkeit aus, eine überraschende Unmittelbarkeit.

Ohne die geringste Erklärung wird eine neue Person eingeführt: Nathanael aus Kana.

45 Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm: Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth.                    

Philippus findet ihn – überraschend.

Philippus wendet sich an ihn „Wir haben gefunden!“

Es ist der berühmte Ruf „Heuräka“: „Wir haben gefunden!“

Philippus erzählt von Jesus. Zwei Aussagen stellt er in den Vordergrund:

Jesus wird zunächst als Erfüllung der jüdischen Schrift bezeichnet und dadurch indirekt als der Messias. Dann wird er mit dem Sohn eines Unbekannten – des Josef – identifiziert, der aus einem unbedeutenden Ort – aus Nazareth – kommt. Passt das zusammen?                                             Nathanael registriert die Differenz sofort.

46 Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann aus Nazareth Gutes kommen! Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh!          

Nathanael hat einen Einwand.

Er deckt die Widersprüchlichkeit der Aussage des Philippus auf. Dass der Messias aus Nazareth komme steht im Widerspruch zur traditionellen Messias-Erwartung und ist auch ohne jede Grundlage in der Schrift.

Philippus argumentiert nicht mit Hilfe der Schrift. Stattdessen spricht er eine Einladung aus: „Komm und sieh!“. Er verschiebt die Argumentation: Die Wahrheit offenbart sich nicht in der Tradition, sondern in der Begegnung mit der Person Jesu.

47 Jesus sah Nathanael kommen und sagt von ihm: Siehe, ein rechter Israelit, in dem kein Falsch ist.

Jesus ergreift die Initiative. Er ist es, der Nathanael anschaut und das Gespräch beginnt.

Bevor Nathanael auch nur seinen Mund öffnet, hat Jesus dessen Identität und sein Lebensengagement enthüllt. Die Aussage über Nathanael ist ganz und gar positiv. Der Begriff Israelitäs bezeichnet ein treues und authentisches Mitglied des Volkes Gottes.

Er fügt hinzu „in dem kein Trug ist“.

So beschreibt er das Verhalten eines Menschen, der auf jeden falschen Schein verzichtet.

48 Nathanael spricht zu ihm: Woher kennst du mich?

Nathanael staunt nicht schlecht.

Wir sind bei der Frage, die uns vorhin beschäftigt hat. Ist das nicht übergriffig?

Ist das nicht übergriffig, wenn andere Informationen über mich haben, die ich ihnen gar nicht bewusst gegeben habe? Ist das nicht übergriffig, wenn andere eine Datensammlung über mich haben, mit der sie mich beeinflussen, in eine bestimmte Richtung lenken können?

Schränkt das nicht meine Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten ein?

Die Europäische Menschenrechtskonvention sagt (Art. 8 Abs. 1): 

„Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.“                    

Das Bundesverfassungsgericht nennt dies das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Der Mensch kann grundsätzlich selbst darüber entscheiden, wem er welche persönlichen Informationen gibt. Darüber hinaus darf es also keinen Datenhandel geben und erst recht kein erschreckendes „Was weißt Du über mich?“,

„Woher kennst Du mich? Nun ist das Erkannt-Werden, Erkannt-Sein von Gott ein Motiv in vielen Berufungsgeschichten, bei Mose (2.Mose3), bei Jesaja (Jesaja 6) und besonders bei Jeremia (Jeremia 1). Es ist also ein religiöses Motiv.

Ist es auf diesem Hintergrund nicht schlimm und verwegen, dass es heute Firmen gibt, die sich anmaßen, Daten zu sammeln, um Menschen unter der Hand zu beeinflussen, zu lenken. Maßen sie sich an, wie Gott zu sein?

Zurück zum Text: Jesus lässt das Erkannt-Werden nicht über Nathanael hereinbrechen. Er begründet es – und zwar ganz menschlich:

48b Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, habe ich dich gesehen

Ganz einfach: Ich habe dich gesehen.

Interessant ist die Aussage, die er dazu setzt: Der Feigenbaum ist im Judentum der Baum, unter dem derjenige sitzt, der die Thora liest und studiert. Nathanael ist also ein „wahrer lsraelit“, weil er die Thora studiert.       

Jesus geht noch einen Schritt weiter:

50 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres sehen als das.        

Nathanael wird eingeladen „Größeres“ zu sehen.

51 Und er spricht zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren über dem Menschensohn.  

Das „Wahrlich, wahrlich ich sage euch“ unterstreicht die Wichtigkeit dessen, was jetzt kommt.

Es ist die Vision vom offenen Himmel. Sie umfasst die ganze nun folgende Erzählung, von Kana bis zum Kreuz, das ganze Evangelium. Jesu ganzes öffentliches Wirken ist gekennzeichnet als eine Zeit, in der „die Himmel offenstehen“.

Das ist die Pointe der Erzählung:

Nathanaels Blick wird erweitert. Er soll „Größeres sehen“.

Vor Kurzem erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel über Brittany Kaiser. Brittany Kaiser arbeitete einst bei der Datenfirma Cambridge Analytica. Sie half mit, dass der Brexit gelang und Trump Präsident wurde. In 68 Nationen hat diese Firma demokratische Prozesse manipuliert. Brittany Kaiser ist ausgestiegen. Sie ist zur Whistleblowerin geworden. Sie hat die Vorgehensweisen der Firma in einem Buch aufgeschrieben:

„Die Datendiktatur: Wie Wahlen manipuliert werden“, erschienen bei Harper Collins. Um ihren Hals trägt sie einen Anhänger mit dem Slogan „Own You Data“ (nimm Besitz von deinen Daten). Brittany Kaiser will nicht mehr für die am meisten Bezahlenden arbeiten. Sie will die Demokratie retten – sagt sie.Kann man sagen: Sie hat Größeres gesehen? Ich denke, man kann.

Das ist die Pointe der Erzählung:

Nathanaels Blick wird erweitert. Er soll „Größeres sehen“.

Es geht nicht um wachsenden wirtschaftlichen Gewinn durch gezieltere Werbung.

Es geht nicht um die Perfektionierung der Macht durch massive Überwachung.

Johannes geht es um Größeres, um die umfassende Zuwendung Gottes, aus der alles Sein lebt.

Es geht um das Leben Aller, um Gottes Sorge für das weltweite Zusammenleben. „Komm und sieh!“ hatte Philippus gesagt.

Kommentare sind geschlossen.